Tote und verletzte Jugendliche bei Protesten in Peru / Diskussionsveranstaltung am 29. März

Bei den seit Dezember 2022 andauernden Protesten gegen die korrupten Eliten und die Gewalt von Polizei und Militär in Peru kamen besonders viele junge Menschen, unter ihnen arbeitende Kinder und Jugendliche, ums Leben oder wurden schwer verletzt. Anlässlich des gewaltsamen Todes von David, eines 13-jährigen arbeitenden Kindes, hat ProNATs gemeinsam mit EuropaNATs in einer Erklärung vom 14.12. auf die Repressionswelle in Peru aufmerksam gemacht. Auch der UN-Ausschuss für die Rechte des Kindes hat am 17.12. in einer Stellungnahme den Staat Peru wegen vielfältiger Verletzung der Kinderrechte kritisiert.

Eine englischsprachige Online-Diskussionsveranstaltung des Children & Work Network bietet Gelegenheit, die Hintergründe der staatlichen Gewalt gegen arbeitende Kinder und Jugendliche in Peru besser zu verstehen. Der Vortrag „Visible Subjects, Invisible Frames: Children’s Rights, Work, and Violence in Lima, Peru” von Dr. Mikaela Luttrell-Rowland (City University of New York, School of Law) basiert auf einer zehnjährigen Untersuchung mit arbeitenden Kindern. Er findet am Mittwoch, 29. März, 16-18 Uhr MEZ, statt. Eine Registrierung (siehe Link unten) ist erforderlich. Die Veranstaltung wird aufgezeichnet und kann auch nachträglich abgerufen werden.

Zur Ergänzung dokumentieren wir hier in deutscher Übersetzung einen Beitrag aus der peruanischen Internet-Zeitung OjoPúblico, in dem mehrere der Gewalt zum Opfer gefallene Kinder und Jugendliche vorgestellt und geehrt werden.

Ein Gedenken an die bei den Protesten getöteten Kinder und Jugendlichen

OjoPúblico, 18.12.2022, aktualisiert am 26.01.2023

Bei den seit über einem Monat andauernden Protesten gegen die Regierung und den Kongress (nationales Parlament, dessen Abgeordnete großenteils als korrupt gelten; Anm. Übers.) sind bereits 46 Zivilist*innen und ein Polizist direkt bei den Demonstrationen in Peru ums Leben gekommen. Weitere 10 Menschen starben bei Straßenblockaden oder Verkehrsunfällen. Die am stärksten von der Repression betroffenen Regionen sind Puno, Ayacucho und Apurímac. Viele der Toten waren Bäuer*innen, arbeiteten in der Landwirtschaft oder auf dem Bau, um ihre Familien zu unterstützen. Sie träumten davon, Fußballer*innen, Apotheker*innen, Ärzt*innen, Polizist*innen und Künstler*innen zu werden. Die meisten von ihnen starben an Schussverletzungen im Brustkorb, Hals und Kopf.

Von Rosa Chávez Yacila & Fiorella Montaño / OjoPúblico.

Am 7. Dezember unternahm Pedro Castillo (der bisherige Präsident; Anm. Übers.) einen Staatsstreich. Noch am selben Tag wurde er vom Kongress abgesetzt, in der Präfektur von Lima inhaftiert und Dina Boluarte - bisher Vizepräsidentin - übernahm das höchste Amt des Landes. Nach etwas mehr als einer Woche Haft verbüßt der ehemalige Präsident nun 18 Monate Untersuchungshaft wegen der angeblichen Straftaten Rebellion, Verschwörung, Amtsmissbrauch und schwere Störung des öffentlichen Friedens.

Diese Reihe von ungewöhnlichen, raschen und endgültigen Ereignissen veranlasste die Menschen nach und nach, auf die Straße zu gehen. Die meisten Demonstrant*innen fordern vorgezogene Wahlen, die Auflösung des Kongresses und den Rücktritt der Präsidentin. Dina Boluarte hat bereits einen Gesetzentwurf zur Vorverlegung der Wahlen vorgelegt, aber der Kongress muss sich noch auf einen Zeitplan einigen. In der Zwischenzeit gehen die Mobilisierungen weiter. 

Nach Angaben des Büros der Ombudsstelle für Menschenrechte waren am Freitag, den 16. Dezember, um 18.41 Uhr 17 Menschen bei Zusammenstößen zwischen Demonstrant*innen, Polizei und Streitkräften ums Leben gekommen. Weitere fünf Opfer starben nach Angaben der Einrichtung bei Verkehrsunfällen und Ereignissen im Zusammenhang mit den Straßenblockaden.

In den darauffolgenden Stunden meldeten die regionalen Gesundheitsdirektionen von Junín und Ayacucho jedoch drei weitere Todesopfer bei den Zusammenstößen. Zwei dieser Fälle beziehen sich auf Junín und einer auf Ayacucho. Mit anderen Worten: Bei Redaktionsschluss waren 20 Menschen bei den Zusammenstößen im Rahmen der Proteste ums Leben gekommen. 

Bei allen Toten handelt es sich um Zivilisten. Die meisten von ihnen stammen aus den südlichen Andenregionen, in denen die monetäre Armut sehr hoch ist. Dort war die polizeiliche und militärische Repression am stärksten. 

Während der Demonstrationen gab es auch Berichte über Schäden und Angriffe auf Privateigentum, die Infrastruktur öffentlicher Einrichtungen und die Medien durch einige Gruppen. Auch rund 140 Polizeibeamte wurden verletzt.

Ayacucho, eines der während des internen bewaffneten Konflikts am stärksten verwüsteten Departements, hat die höchste Zahl direkter Todesopfer zu beklagen: neun. Sechs weitere Todesfälle sind in Apurímac zu beklagen, dem Land des Chanka-Volkes mit einer großen Anzahl von Quechua-Gemeinden. Drei weitere Todesfälle in Junín, einer in La Libertad und einer in Arequipa.

Präsidentin Dina Boluarte hat einige der verletzten Polizisten besucht. Aber im Fall der Verstorbenen hat sie ihr Beileid durch einen Tweet und öffentliche Botschaften zum Ausdruck gebracht. Am vergangenen Freitag nahm sie an einer Abschlussfeier der Chorrillos-Militärschule in Lima teil, wo sie sagte, dass die Polizei und die Streitkräfte klare Anweisungen hätten, „die Integrität und die Menschenrechte der Demonstranten zu schützen“. 

Nach den ersten Todesfällen in Ayacucho forderte das Büro des Ombudsmannes das Gemeinsame Kommando der Streitkräfte auf, „den Gebrauch von Schusswaffen und den Einsatz von Tränengasbomben aus Hubschraubern sofort einzustellen“. 

Die Beweise für den Einsatz von Schusswaffen gegen Zivilisten durch das Militär in Ayacucho sind unterschiedlich und zahlreich. Die Autopsien von acht der neun jungen Männer, die dort starben, haben ergeben, dass sie von Schusswaffen getroffen wurden. In sechs Fällen handelte es sich um Einschüsse im Brustkorb. In einem Fall war es der Schädel, in einem anderen der Unterleib.

Der nationale Koordinierungsausschuss für Menschenrechte hat seinerseits verschiedene Menschenrechtsverletzungen während der Demonstrationen auf nationaler Ebene festgestellt. So wurden beispielsweise verbotene Munition und Schusswaffen gegen Zivilisten eingesetzt, Tränengasbomben gegen die Körper von Demonstranten geschossen, willkürliche Verhaftungen vorgenommen, verdeckte Polizisten in die Demonstrationen eingeschleust und belastende Beweise untergeschoben.

Auch die Mission des Amtes des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Menschenrechte (OHCHR) in Peru hat ihre Besorgnis über die Zunahme der Gewalt im Lande zum Ausdruck gebracht. Und die Interamerikanische Menschenrechtskommission hat angekündigt, dass sie nächste Woche auf Einladung der Regierung Peru besuchen wird. Sie hat auch die Zunahme der Gewalt verurteilt und den peruanischen Staat aufgefordert, die Täter zu bestrafen.

Der Staatsrat, der sich hauptsächlich aus Vertretern der Exekutive, der Legislative und der Judikative zusammensetzt, hat Boluarte und ihre Entscheidung, den Ausnahmezustand zu verhängen und die Nationalpolizei und die Streitkräfte für 30 Tage mit der Kontrolle der Sicherheit des Landes zu betrauen, politisch unterstützt.

OjoPúblico präsentiert ein kleines Gedenken an einige der tödlichen Opfer der Mobilisierungen der letzten Tage. Es handelt sich um Kinder und Jugendliche zwischen 15 und 19 Jahren und zwei junge Männer im Alter von 23 und 26 Jahren aus Apurímac, Ayacucho und La Libertad, die zum Teil zum ersten Mal in ihrem Leben an Protesten teilnahmen. 

Kind und Hausmann

D.A.Q.

15 Jahre

Er war erst 15 Jahre alt, aber D.A.Q. wusste bereits, wie man das Leben eines erwachsenen Mannes führt. In seinem Zuhause, einem kleinen gemieteten Zimmer in Huayhuaca - einer Stadt in der Provinz Andahuaylas in der Region Apurímac - war der Teenager der Ernährer seiner Mutter und seiner beiden jüngeren Brüder. „Er hatte Pläne für uns“, sagt Esther, seine 17-jährige Schwester. „In erster Linie, um uns zu unterstützen.“ 

Der Schüler im dritten Jahr der Sekundarschule führte zugleich das Leben eines arbeitenden Kindes. Zum einen besuchte er die Simón-Bolívar-Schule, zum anderen arbeitete er auf den örtlichen Bauernhöfen oder auf einer Baustelle. 

Der junge Mann hatte buchstäblich große Pläne für seine Zukunft. Seine Schwester Esther sagt, er habe davon geträumt, mit schweren Maschinen zu arbeiten. „Er wollte auch ein großes Haus haben“, erinnert sie sich. Manchmal dachte er daran, Polizist zu werden, warum nicht. 

Obwohl er wie ein Erwachsener Verantwortung übernehmen musste, war D.A.Q. immer noch ein Kind. Seine Mutter, eine Hausfrau und gelegentliche Verkäuferin von Anticuchos, kochte ihm gerne Arroz Chaufa mit Spiegeleiern. Eine seiner Lieblingsbeschäftigungen war Free Fire, ein Action-Adventure-Videospiel, das ihn zeitweise so gut unterhielt, dass er seine Pflichten als Hausmann vergaß. 

Michelle, der Schwager und Freund von D.A.Q., sagt, er habe ihn zu den Demonstrationen am Flughafen Andahuaylas begleitet und sie hätten aus Neugierde teilgenommen. Es war das erste Mal, dass sie sich einem Protest angeschlossen haben. Seit ihrer Ankunft war kaum mehr als eine halbe Stunde vergangen, als D.A.Q. getroffen wurde. Laut Michelle sagte ihr Schwager: „Hilf mir, Bruder“, und Minuten später war er tot. 

Ein visionärer Stürmer

Beckham Quispe Garfias

18 Jahre

Als großer Liebhaber des Fußballs und Bewunderer seiner großen Spieler nannte ihn sein Vater Beckham Romario (natürlich zu Ehren des englischen Mittelfeldspielers und Superstars David Beckham und des Stürmers Romario de Souza Faria aus Rio de Janeiro). Vielleicht hat Beckham Romario Quispe Garfias deshalb, vielleicht aber auch nur zufällig, eine unbändige Leidenschaft für den Ball geerbt. 

Er begann seine sportliche Laufbahn im Alter von sechs Jahren. Von da an spielte der junge Mann aus der Gemeinde Yanayacu in der Provinz Andahuaylas für verschiedene lokale Vereine, bis er in Apurímac zum Fußballstar wurde. Alianza de Lliupapuquio, La Victoria und Los Chankas sind einige der Mannschaften, für die Quispe Garfias spielte. 

Seine Familie war groß und hatte nur begrenzte wirtschaftliche Ressourcen: ein Vater, der Kartoffeln anbaute, Ollucos und Gänse unterhielt; eine Mutter, die Mais verkaufte; sechs Geschwister. „Vielleicht hat es mein Bruder wegen des geringen Einkommens im Fußball nicht weiter gebracht, denn er hätte eine große Zukunft gehabt“, sagt Raquel Quispe Garfias, seine ältere Schwester, 23 Jahre alt. 

Sie erinnert sich, dass Beckham, der in der vierten Klasse der Sekundarschule war, den Mangel mit Talent wettmachte: Solange er bei ihnen spielte, gaben ihm die Vereine selbst die Trikots und die Sportkleidung. 

Er gründete auch eine Amateurfußballmannschaft, Red Lyon. „Er war kein ‚Piranha‘ oder ein Verbrecher, er besaß seine Fußballmannschaft“, sagt Raquel. Wie ein guter Visionär für erfolgreiche Spiele hat er versucht, seine Regeln auf dem Spielfeld durchzusetzen.

Beckham Romario hatte am 11. Dezember auf dem Flughafen von Andahuaylas protestiert. Seine Schwester Raquel möchte, dass sein Plädoyer für Gerechtigkeit so viele Menschen wie möglich erreicht. „Für Peru zählt nur Lima, nicht die Provinzen“, sagt sie und behauptet, die Menschen in ihrem Dorf seien getötet worden, „als wären sie Tiere“. 

Der Arzt der Familie

Wilfredo Lizarme Barboza

18 Jahre

Wilfredo Lizarme Barboza war die Hoffnung seiner Eltern, zweier Bauern aus dem Dorf Ccacce in Andahuaylas. Da er ein guter Schüler war, schickte man ihn nach Abschluss der Grundschule nach Abancay, der Hauptstadt der Region Apurímac, wo er eine Schule besuchte, die gleichzeitig ein Priesterseminar war. Mit viel Mühe brachte die Familie die 200 Soles Monatsbeitrag auf.

Nach dem Abschluss der Sekundarschule verfolgte Wilfredo seine akademischen Pläne weiter. Er kehrte nach Andahuaylas zurück und schrieb sich an einer voruniversitären Akademie ein. „Sein Traum war es, Arzt zu werden“, sagt Luis Lizarme Barboza, sein älterer Bruder. 

Um die Kosten für ihr Studium zu decken, gingen Wilfredo und Luis auf den Marktplatz, um nach Arbeit zu suchen. Dort wurden sie, wenn sie Glück hatten, von den Besitzern von Feldern oder Baustellen angeworben, die Arbeiter für einen Tag brauchten. In gewisser Weise übte Wilfredo in der körperlichen Arbeit in der Stadt und auf dem Land die Disziplin, die Gründlichkeit und den Einsatz, die er für die Medizin brauchen würde.

Trotz seiner Verpflichtungen gegenüber seinem Studium und seiner Familie behielt er etwas Geld für seine jugendlichen Eitelkeiten. Er liebte es, Turnschuhe verschiedener Modelle und Farben zu sammeln. Der ältere Bruder sagt, dass er etwa drei oder vier neue Paare hinterlassen hat, die er nie tragen kann. Luis möchte Wilfredo jedoch mit der Bescheidenheit in Erinnerung behalten, die er sich immer bewahrt hat: Er trug seine Flip-Flops aus Gummi und arbeitete Seite an Seite auf den Feldern.

Luis Lizarme Barbonza sagt, dass sein Bruder am zweiten Tag seiner Teilnahme an den Protesten gestorben ist. Es war der 12. Dezember, auf dem Flughafen von Andahuaylas. Er trug ein Transparent mit der Aufschrift „Schließt den Kongress“. „Am zweiten Tag hatte er es noch schöner gezeichnet“, erinnert er sich. Der Bruder von Luis bittet um Hilfe, damit seine Familie, die aus seinen beiden Eltern und acht Geschwistern besteht und nur über geringe wirtschaftliche Mittel verfügt, weiterleben kann.

Ein religiöser Student

Cristian Rojas Vásquez

19 Jahre

Cristian Rojas Vásquez wollte Polizist werden. Er hatte sich sehr gut vorbereitet, bestand die Prüfung aber wegen seiner geringen Größe nicht. Noemí Rojas Vasquez erinnert sich, dass ihr jüngerer Bruder sehr traurig war, aber seine Familie ermutigte ihn, etwas anderes zu studieren. Also schrieb er sich an einer Fachschule in Andahuaylas, in Apurímac, ein, um Pharmazie zu studieren. Er hatte den ersten Zyklus kaum beendet. 

Noemi glaubt, dass ihr Bruder aufgrund seines christlichen Glaubens nicht so leicht zu besiegen war. „Er hat uns immer ermutigt, er hat mir immer gesagt 'gib nicht auf'“, sagt seine Schwester. Sie erinnert sich an den jungen Mann, der auf seinem Keyboard Gospellieder spielte und Loblieder sang. Für Noemí war ihr Bruder der fleißigste und liebevollste.

Für seinen Freund Filio Hurtado Omonte war Cristian ein fähiger und vor allem verantwortungsvoller Junge. „Er war auf Gottes Weg“, sagt er. Er arbeitete an den Wochenenden, um Geld nach Hause zu bringen, aber sein Hauptziel war es, sein Studium zu beenden. 

In dem Dorf Ancatira glauben sein Vater - ein Kartoffel-, Olluco- und Gerstenbauer -, seine Mutter - eine Hausfrau -, seine fünf Geschwister und seine Freunde noch immer nicht an seinen unwiderruflichen Weggang.

Cristian Rojas Vásquez wurde am 10. Dezember schwer verletzt. Sein Freund Filio Hurtado Omonte sagt, sie seien gemeinsam zu den Protesten am Flughafen von Andahuaylas gegangen, aber irgendwann seien sie getrennt worden. Während dieser Zeit wurde Cristian von einer Tränengasbombe am Kopf getroffen. Aufgrund der Schwere seiner Verletzung wurde er in das Krankenhaus Guillermo Díaz de la Vega in Abancay gebracht, wo er nur vier Tage lang überlebte. 

Der furchtlose und gefühlvolle Sänger

Carlos Huamán Cabrera

26 Jahre

Carlos Huamán Cabrera war ein furchtloser Mensch. Im zarten Alter von 26 Jahren hatte sein Abenteuergeist ihn bereits dazu gebracht, wichtige Entscheidungen zu treffen, die sein Leben veränderten. Als er gerade 16 Jahre alt war, sprach er in seinem Heimatbezirk Bagua Grande im Amazonasgebiet den Leiter eines Musikorchesters an, das gerade auf einem Platz einen Videoclip aufnahm, und bot ihm an, einer der Sänger zu sein.

„Er erzählte mir, dass er schon immer gesungen hatte, aber es gab kein Orchester, das ihm die Möglichkeit dazu gegeben hätte“, erinnert sich Jesusito Vásquez, Leiter von Ilusión Sensual, der Cumbia-Gruppe aus dem Amazonasgebiet, die ihm damals die Türen geöffnet hat. Er hatte eine schöne Stimme.

Mit seiner weichen und gefühlvollen Stimme war Huamán Cabrera der berühmte Interpret der Hits Solterito y Parrandero, Mi linda guambrita oder Tu recuerdo de amor. Tatsächlich war es das letztgenannte Lied, das Leydi Campos überzeugte: Sie war ein Fan von Ilusión Sensual, er war der berühmte Sänger. Als sie sich kennenlernten, mochten sie sich, und bald blieben sie zusammen. Vor sieben Jahren bekamen sie einen Sohn. 

Diese Furchtlosigkeit und auch seine Liebe zu anderen Menschen veranlassten Carlos Huamán Cabrera, eine bessere Zukunft für seine Familie zu suchen. Während der Pandemie reiste er allein vom Amazonas nach Lima: Er brauchte eine andere Arbeit, um mehr Geld für seine Familie zu verdienen. In der Hauptstadt arbeitete er als Hühnerlieferant bei einer Geflügelfarm. Leydi Campos erinnert sich an ihre „Liebe“, ihr „Leben“, ihren „alten Mann“, ihr „Baby“ als Ehemann und Vater, der alles gab. 

Vor einem halben Jahr schlug er mit seinem gewohnten Mut eine neue Richtung ein: La Libertad. In der Provinz Viru bekam er eine Stelle als Angestellter eines Agrarexportunternehmens. Dank seiner Bemühungen war es ihm gelungen, in dem Dorf El Ron ein kleines Holzhaus zu bauen. 

Huamán Cabrera hatte versprochen, zu Weihnachten dorthin zurückzukehren. Seine Frau hat inmitten ihres unglaublichen Kummers manchmal das Gefühl, als wäre nichts geschehen. Als ob ihr nur noch wenige Tage blieben, um mit ihrer Liebe zur gefühlvollen Stimme wieder vereint zu sein. 

Leydi Campos versteht bis heute nicht ganz, was mit ihrem Mann geschehen ist. Sie sagt, dass sie und Carlos am 11. Dezember den ganzen Tag miteinander gesprochen haben. Gegen 21.00 Uhr schrieb er ihr, dass er bei den Protesten sei. „Warum bist du dahin gegangen?“, fragte sie ihn. Sie hat nie eine Antwort erhalten. Kurz vor 5.00 Uhr morgens erhielt sie einen Anruf auf dem Mobiltelefon ihres Mannes, aber es sprach ein Mann, der ihr mitteilte, dass Carlos gestorben sei.

Ein unermüdlicher Tänzer 

Clemer Rojas García

22 Jahre

Clemer Rojas García begann schon als Kind zu tanzen, denn zu Hause - in der Provinz Huamanga in der Andenregion Ayacucho - tanzte jeder gern. Als Jugendlicher schloss er sich der Truppe Los Huaraqueros de Quinua an. Mit ihr trat er bei jedem Karneval in Ayacucho auf, um auf den Straßen und Plätzen seiner Stadt traditionelle Tänze zu tanzen. 

Er war einer der führenden Tänzer, erinnert sich sein Vater, Reider Rojas Jaúregui. „Mein Sohn war ein fröhlicher und sehr aktiver Mensch“, sagt er. Clemer war derjenige, der mehr junge Menschen ermutigte, sich Los Huaraqueros de Quinua anzuschließen und die Gruppe zu organisieren. Bei den Comparsas-Wettbewerben belegten sie oft den ersten Platz. „Wir haben uns mit unseren Bräuchen immer durchgesetzt“, erinnert sich Reider an die künstlerischen Triumphe seines erstgeborenen Sohnes. 

Clemer plante seinen Tagesablauf wie eine harmonische Choreografie. Vormittags studierte er Automechanik am Senati-Institut. Nachmittags arbeitete er mit seinem Vater bei Rojas Rojitas, einer Autowaschanlage, die zum Familienbetrieb gehörte. Der junge Mann spielte seinem Vater, seiner Mutter und seinem jüngeren Bruder gern Streiche. Reider Rojas Jáuregui bewunderte, wie der unermüdliche Tänzer inmitten des Trubels immer eine „Palomilla“ (Täubchen) sein konnte.

Sein Vater sagt, dass niemand in der Familie wusste, dass Clemer am Flughafen von Ayacucho protestieren wollte. Er erinnert sich, dass der junge Mann ihm beim Verlassen des Hauses sagte, er würde seine Mutter auf dem Markt treffen, wo sie arbeitet. Als sie die Unruhen am Flughafen in den Nachrichten sah, machte sie sich Sorgen um ihren Sohn und rief ihn auf seinem Handy an. Ein Mann antwortete und sagte: „Der junge Mann wurde von einer Kugel getroffen, sie haben ihn schon weggebracht, ich habe sein Handy gefunden“. Laut Reiner hatte Clemer eine Kugel in der Brust, die seine Niere und Leber tödlich verletzte.


Links

Deklaration von EuropaNats auf Facebook

Stellungnahme des UN-Ausschusses für die Rechte des Kindes (auf Englisch)

Website des Originalartikels aus OjoPúblico (auf Spanisch)

Webinar-Serie von Children & Work (auf Englisch)

Aktualisiert: 26.03.2023