ILO und UNICEF täuschen mit Kinderarbeits-Statistik

In einer gemeinsamen Pressemitteilung zum 12. Juni, dem von der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) ausgerufenen Internationalen Tag zur Abschaffung der Kinderarbeit, haben UNICEF und ILO unter Hinweis auf einen neuen Report beklagt, dass die Corona-Pandemie zu einem Anstieg der Kinderarbeit in der Welt geführt habe. Sie haben damit nicht nur mit statistischen Daten Schwindel betrieben, sondern auch die vielen arbeitenden Kinder, die unter den Bedingungen von Corona ums Überleben kämpfen, zum Spielball einer unverantwortlichen Politik gemacht.

Seit die ILO im Jahr 2002 erstmals einen Report über das Ausmaß der Kinderarbeit in der Welt veröffentlicht hatte, hat sie es als Erfolg ihrer Politik dargestellt, dass die Kinderarbeit kontinuierlich abnahm. Ihr ging es nur nicht schnell genug, und sie musste ihr zunächst proklamiertes Ziel, Kinderarbeit in allen ihren Formen bis 2020 zu beseitigen, erst mal auf 2025 verschieben. Nun musste die ILO zugeben, dass der Trend sich sogar umgekehrt hat. Zum ersten Mal sind die von der ILO ermittelten Zahlen höher als die vorherigen Schätzungen: 160 Millionen Kinder in Kinderarbeit im Vergleich zu 152 Millionen für den Zeitraum 2012-2016. Statt diese Trendumkehr zum Anlass zu nehmen, ihre eigene Politik, die auf einem pauschalen Verbot von Kinderarbeit basiert, zu überprüfen, hat die ILO – diesmal mit Schützenhilfe von UNICEF – den Grund dafür der Corona-Pandemie in die Schuhe geschoben. 

Leider hat sich kaum ein Medium, das die Pressemitteilung von ILO und UNICEF in der Welt verbreitet hat, die Mühe gemacht, den Report genauer anzusehen (siehe unten). Es wäre dann zu erkennen gewesen, dass die weitaus meisten Daten aus der Zeit vor dem Ausbruch der Corona-Pandemie stammen. Was den unter Zeitdruck stehenden Medienleuten vielleicht nachgesehen werden kann, wiegt im Falle der Profis von ILO und UNICEF schwerer: sie haben schlicht ihre Sorgfaltspflicht verletzt und mit statistischen Daten in manipulativer Absicht jongliert. Sie haben damit nicht nur Zweifel an ihrer wissenschaftlichen Kompetenz und Glaubwürdigkeit geweckt, sondern auch sichtbar werden lassen, dass ihnen Zahlen mehr bedeuten als die Situation der arbeitenden Kinder und die Folgen ihrer eigenen Politik.

Bisher schon waren die Statistiken der ILO nicht über jeden Zweifel erhaben. Die ILO selbst spricht von „Schätzungen“. Diese basieren vor allem auf Haushaltsbefragungen, die in den meisten Ländern sehr lückenhaft sind und teilweise „harmonisiert“ werden, um sie plausibel erscheinen zu lassen (diesmal stammen sie aus 106 Ländern; welche das sind, wird nicht gesagt). Die Schätzungen berücksichtigen nur solche Arbeit, die in Geld oder Naturalien entlohnt wird und grenzen somit „nicht-ökonomische Arbeit“ (ILO-Sprech) aus, die innerhalb der eigenen Familie als Care-Arbeit vorwiegend von Mädchen ausgeübt wird. Da die Kinderarbeit verboten ist, besteht eine Tendenz, sie bei den Erhebungen zu verbergen. Im informellen Sektor, wo der Großteil der Kinder arbeitet, kann nur ein Bruchteil der Arbeit der Kinder statistisch erfasst werden. Die statistischen Daten geben keine Auskunft über die näheren Umstände der Arbeit der Kinder, die selbst auch nie befragt werden.

Ein Kommentar von Annette Jensen in der taz vom 11. Juni 2021 hat den Finger auf die Wunde gelegt:

„Corona verschlechtert die Lage von Kindern weltweit. Nach den Schulschließungen im globalen Süden werden viele nie mehr ins Klassenzimmer zurückfinden, fürchten Expert*innen. Vor allem die Berufschancen vieler Mädchen zerbröseln, eine massive Zunahme von Kinderehen und häuslicher Gewalt wird erwartet. Doch so wie in Deutschland die Interessen der Kinder in der Pandemie nur eine Nebenrolle spielen, ist es auch auf globaler Ebene. Am Mittwoch meldete Unicef, dass die Zahl der arbeitenden Kinder auf 160 Millionen gestiegen sei. Davon abgesehen, dass die Zahl eine Exaktheit suggeriert,  die die realen Statistiken nicht hergeben, spiegelt sich darin die Perspektive von Erwachsenen. Sie machen die Kinder zu Opfern und Objekten internationaler Fürsorge, statt sie als real existierende Menschen ernst zu nehmen.

Das offizielle Ziel, Kinderarbeit bis 2025 abzuschaffen, dient in erster Linie dem wohligen Gefühl gut bezahlter Erwachsener in klimatisierten Büros, die Moral auf ihrer Seite zu haben. Tatsächlich schadet das Verbot von Kinderarbeit vielen Betroffenen. Händler vertreiben sie vom Marktplatz, Polizisten sperren sie ein, Arbeitgeber prellen sie um ihren Lohn. Weil ihr Tun illegal ist, sind arbeitende Kinder rechtlos. Dass das Verbot dazu führt, dass sie stattdessen in die Schule gehen, ist eine Illusion. Im Gegenteil: Gerade weil sie arbeiten, haben viele Kinder überhaupt die Chance, das nötige Geld für den Unterrichtsbesuch zusammen zu bekommen.

Wer die Lage von arbeitenden Kindern wirklich verbessern will, sollte ihnen echte Mitspracherechte geben. Sie sind die Expert*innen ihrer Lebenssituationen – und die sind höchst vielfältig. In Lateinamerika, Asien und Afrika haben sich in den vergangenen Jahrzehnten Kinderbewegungen gebildet, die auf Solidarität setzen und die Arbeitsbedingungen verbessern wollen. Doch bis heute dürfen sie auf den Veranstaltungen der Internationalen Arbeitsorganisation ILO nicht sprechen – selbst wenn es um Kinderarbeit geht. Denn die ist ja schließlich verboten und soll ausgerottet werden.“

ProNATs schließt sich dem Kommentar an. Die Statistiken der ILO zu Kinderarbeit sind keine geeignete Grundlage für eine Politik, die die Situation arbeitender Kinder verbessert.

Downloads

ILO-Report "Child labour - Global estimates 2020, trends and the road forward"

Aktualisiert: 27.07.2021