Erfahrungsberichte von ehemaligen arbeitenden Kindern

Die Plattform openDemocracy veröffentlichte kürzlich eine Serie von lebensnahen Berichten über arbeitende Kinder und Jugendliche, von denen ProNATs zwei ins Deutsche übersetzt hat. Die Schilderungen stammen von Erwachsenen, die die Arbeit in ihrer Kindheit positiv erlebten. Sie erzählen davon, wie die Arbeit den Weg zu weiteren beruflichen Möglichkeiten ebnete, und machen Vorschläge, wie die Situation arbeitender Kinder realitätsnah verbessert werden kann. Unter anderem fordern sie ein Recht für Kinder, unter würdigen und sicheren Bedingungen zu arbeiten.

Meine Kindheit als arbeitendes Kind in Malawi - von Mavuto Banda

Unser Autor wäre heute nicht da, wo er ist, wenn das Verbot der Kinderarbeit ihn daran gehindert hätte, zu arbeiten, als er darauf angewiesen war.

Als ich in einem abgelegenen Dorf im südmalawischen Distrikt Chikwawa aufwuchs, war die Frage, woher die nächste Mahlzeit kommen würde, immer ein Alptraum. Ich wuchs bei einer alleinerziehenden Mutter auf, und meine sechs Geschwister und ich wussten von klein auf, dass wir nichts zu essen haben würden, wenn wir nicht für das Essen arbeiten würden. Wir wussten auch, dass wir keine Kleidung und andere notwendige Dinge, einschließlich Lernmaterial, haben würden. Wir hatten unser Überleben und unser Schicksal selbst in der Hand, und es wurde für uns „normal“, für Essen und alle anderen Bedürfnisse und Wünsche in unserer Jugend zu arbeiten.

Bei den im Dorf vorhandenen Jobs handelte es sich jedoch fast ausschließlich um Akkordarbeit, die bei uns als Ganyu bezeichnet wird, und die meist im Austausch gegen Lebensmittel verrichtet wurde. Es gab nur sehr wenige Möglichkeiten, Geld zu verdienen, und diese wurden von den erwachsenen Arbeitern des Dorfes eifersüchtig gehütet. In unserem sechsten Grundschuljahr (11 Jahre) fuhren meine Mitschüler*innen und ich ins benachbarte Mosambik, um saisonale landwirtschaftliche Arbeit zu suchen. Mein Ziel war es, genug Geld zu bekommen, um eine Schuluniform, Kleidung für meine jüngeren Geschwister und mich sowie Lernmaterial für das nächste Schuljahr zu kaufen. Diese Unterbrechung der Schulzeit wirkte sich zwar kurzfristig auf meine Leistungen aus, doch langfristig hatte sie den Vorteil, dass ich mich in den nächsten zwei Jahren auf mein Studium konzentrieren konnte. So hatte ich Zeit, mich auf die nationalen Grundschulabschlussprüfungen vorzubereiten, was ich mit den Lernmaterialien tat, die ich mir während meiner Zeit in Mosambik gekauft hatte.

Für Kinder, die in großer Armut leben, ist Bildung ohne die Möglichkeit einer bezahlten Arbeit meist ein unerreichbarer Traum

Obwohl ich in diesem Jahr eines von drei Schuljahren verpasste, konnte ich dank der Schuluniform und der Lernmittel meine Grundschulbildung abschließen. Und weil ich in der nationalen Grundschulprüfung gut abschnitt, erhielt ich einen Platz in einer staatlichen Internatsschule der Sekundarstufe. Daraufhin erhielt ich ein staatliches Darlehen, mit dem ich meine Universitätsausbildung finanzieren konnte. Heute bin ich Mitarbeiter einer NGO und promovierter Forscher. Rückblickend kann ich sagen, dass ich niemals die Ausbildung erhalten hätte, die sich so positiv auf mein Leben und das Leben meiner Familienangehörigen ausgewirkt hat, wenn ich nicht in der Lage gewesen wäre, Arbeit zu finden, als ich sie brauchte.

Der vorherrschende Diskurs über das Wachstum und die Entwicklung von Kindern stellt die Vereinbarkeit von Kinderarbeit und Bildung in Frage. Meine persönliche Kindheit beweist, dass sie eine Symbiose bilden können. Zwar haben alle arbeitenden Kinder, aktuelle und ehemalige, ihre eigenen einzigartigen Geschichten und Erfahrungen, aber meine Erfahrung zeigt, wie die Aufopferung in einem zarten Alter eine ganze Familie über Generationen hinweg verändern kann.

Regierungen und Entwicklungspartner*innen: Sie sehen nur, was sie erwarten

Ich arbeite seit über 12 Jahren als Entwicklungshelfer in Malawi und habe gelernt, dass es zwischen Geldgeber*innen und Durchführungsorganisationen eine Kluft gibt, was das Verständnis der zu lösenden Probleme angeht. Ein Beispiel ist ein kürzlich durchgeführtes Projekt, das darauf abzielte, Kinder in einem abgelegenen Dorf im Süden Malawis in der Schule zu halten. Der Schwerpunkt lag auf der Änderung der Einstellung der Eltern und Erziehungsberechtigten, wie wichtig es ist, ihre Kinder zur Schule zu schicken, und der konkrete Plan sah vor, dass die Dorfvorsteher die Eltern oder Erziehungsberechtigten jedes schulpflichtigen Kindes bestrafen, das während der Schulzeit im Dorf herumstreunt.

Eines Tages fragte ein Projektmitarbeiter einige Kinder, die er auf dem Dorfplatz spielen sah, warum sie nicht am Unterricht teilnahmen, obwohl sie eine Uniform trugen. Eines der Kinder antwortete, dass wegen des Lehrermangels nur eine Stunde pro Tag unterrichtet werde. Der Unterricht des Tages hatte bereits stattgefunden, und sie sahen keinen Grund, auf dem Schulgelände zu bleiben, weil sie wussten, dass bis zum nächsten Tag nichts mehr passieren würde. Der Mitarbeiter erzählte die Geschichte dem Rest des Teams, wurde aber angewiesen, sich an den Plan zu halten. Der Projektrahmen konnte nicht geändert werden, um den tatsächlichen Herausforderungen, die den Zugang zu hochwertiger Bildung behindern, zu begegnen. Die Projektmitarbeiter*innen mussten das befolgen, was die Geldgeber*innen für das Hauptproblem hielten: die Nachlässigkeit der Eltern, ihre Kinder zur Schule zu schicken.

Geber*innen, die Programme zur Bekämpfung der Kinderarbeit finanzieren, sollten flexible Finanzierungsbedingungen festlegen, die es den Mitarbeiter*innen vor Ort ermöglichen, die örtlichen Gemeinschaften in jeder Phase einzubeziehen.

Von dieser Geschichte gibt es viele Versionen. In manchen Schulen ist es vielleicht das Fehlen von Trinkwasser oder Toiletten, das die Kinder dazu veranlasst, etwas anderes zu tun, als zum Unterricht zu erscheinen. In anderen ist es vielleicht ein unbequemer Klassenraum, in dem alle auf einem unebenen, abgenutzten Boden sitzen müssen. Einige Probleme sind in allen Schulen anzutreffen, während es an bestimmten Standorten zusätzliche Hürden zu überwinden gilt. Die Lektion ist jedoch, dass der Schulbesuch aus vielen Gründen unattraktiv sein kann. Wenn die Geldgeber*innen, Planer*innen und Mitarbeiter*innen der Projekte wirklich etwas ändern wollen, müssen sie sich auf die vor Ort vorgefundenen Probleme einstellen und sie angehen, auch wenn sie nicht den eigenen Erwartungen entsprechen.

Der vielleicht wichtigste Grund, warum die Schule manchmal in den Hintergrund treten muss, ist die Armut. In meinem Fall war sie sicherlich der Hauptgrund, und dasselbe gilt wahrscheinlich auch für viele andere Haushalte. Für Kinder, die in großer Armut leben, ist Bildung ohne die Möglichkeit einer bezahlten Arbeit in der Regel ein weit entfernter Traum. Ich hätte meine Bedürfnisse nie befriedigen und meine Ausbildung nie machen können, wenn Mosambik und Malawi Kindern eine bezahlte Arbeit in der Landwirtschaft strikt verboten hätten.

Notwendig, aber nicht unbedingt einfach.

Es ist eine Tatsache, dass viele Kinder missbraucht werden, wenn sie arbeiten, um ihre Familien zu unterstützen. Wenn eine Familie in Armut lebt, erwarten die Gemeinschaft und die Familie, dass die Kinder durch ihre Arbeit zur Deckung der Grundbedürfnisse der Familie, einschließlich Nahrung, beitragen. Kinder, die dies tun, werden von beiden Seiten hoch geachtet. Leider kann das Gleiche nicht immer über die Arbeitgeber*innen gesagt werden. Während meiner Zeit als junger Wanderarbeiter hörte ich viele Geschichten von arbeitenden Kindern, die unter den Familien, die sie beschäftigten, zu leiden hatten. Einige hatten sich sogar geweigert, die Kinder nach einer ganzen Saison Arbeit auf ihren Feldern zu bezahlen. Dies sind die Arten von Gefährdungen, denen arbeitende Kinder ausgesetzt sind, und es sollte im Interesse aller Beteiligten liegen, sicherzustellen, dass arbeitende Kinder davor geschützt werden.

Ich bin der Ansicht, dass die internationalen Organisationen und Geber*innen, die Programme zur Bekämpfung der Kinderarbeit finanzieren, flexible Finanzierungsbedingungen haben sollten, die es den Mitarbeiter*innen vor Ort ermöglichen, die Gemeinschaften in jeder Phase des Projekts einzubeziehen: von der Konzeption und Gestaltung bis hin zur Durchführung und Überprüfung. Dies würde voraussetzen, dass sie akzeptieren, dass Programme zur Bekämpfung von Kinderarbeit nicht unbedingt versuchen, diese zu beseitigen. Das wäre eine Herausforderung für sie. Dies würde jedoch letztlich Mittel einsparen und die Programme in den Gemeinden weitaus wirksamer machen, da sie die Ursachen für die Gefährdung von Kindern an der Wurzel packen würden, anstatt sich mit oberflächlichen Dingen herumzuschlagen.

Wenn wir über das Internationale Jahr zur Beseitigung der Kinderarbeit [von der UN für 2021 ausgerufen; Anm. ProNATs] nachdenken, sollten wir die Tatsache anerkennen, dass Kinder in der ganzen Welt mit komplexen und einzigartigen Menschenrechtsproblemen konfrontiert sind, die spezifische, gut durchdachte Interventionen erfordern. Diese Maßnahmen sollten sich auf die Stärkung der Kinder und ihrer Familien konzentrieren. Der Nationale Aktionsplan zur Abschaffung der Kinderarbeit in Malawi, der 2009 eingeführt und von der Internationalen Arbeitsorganisation unterstützt wurde [was uns erfreut, da es der sonst von der ILO propagierten Linie widerspricht; Anm. ProNATs], ist meiner Meinung nach ein Ansatz, der arbeitende Kinder stärkt, anstatt sie von der Arbeit abzuziehen, ohne ihnen Alternativen zu bieten. Im Rahmen des so genannten SNAP-Programms werden arbeitende Kinder, darunter auch Mädchen, die als Haushaltshilfen beschäftigt sind, auf Teilzeitbasis in Kompetenzentwicklungszentren eingeschrieben. Dort erwerben sie Fertigkeiten wie Schneidern, Ziegeln, Schweißen und Schreinern, die sie für eine menschenwürdige Beschäftigung befähigen, ohne dass von ihnen verlangt wird, im Gegenzug auf ihr heutiges Einkommen zu verzichten.

Fazit

Kinder in armen Ländern sind mit zahlreichen Herausforderungen konfrontiert, die ihr Wachstum und ihre Entwicklung behindern können. Ausbeuterische Arbeit ist sicherlich eine davon. Antworten auf diese Herausforderungen sollten sich jedoch auf die Faktoren konzentrieren, die Kinder zur Arbeit veranlassen, und arbeitende Kinder stärken, damit sie ihren Lebensunterhalt in einem sicheren Umfeld verdienen können. Ich glaube, dass die Konzentration auf die Push-Faktoren in den Haushalten und in den Gemeinden ebenso gut ist wie die Stärkung der Institutionen im Kampf gegen den Missbrauch arbeitender Kinder. Dies setzt aber voraus, dass Geldgeber*innen und internationale Organisationen aus dem Globalen Norden den jeweiligen Kontext verstehen, in dem die Programme durchgeführt werden, dass sie flexibel sind und dass sie Ideen und Vorschläge aus den Gemeinschaften, in denen sie tätig werden wollen, berücksichtigen. Es ist möglich, ein sicheres Umfeld für arbeitende Kinder zu schaffen.


Kinderarbeit: ein Stoßdämpfer für wirtschaftliche Prekarität - von Tatek Abebe

Die gängigen Lösungsansätze für das „Problem“ der Kinderarbeit verfolgen eine zu eng gefasste, strafende Politik. Entweder werden von Kindern hergestellte Produkte boykottiert oder Kinder werden von Arbeiten „befreit“, die als ausbeuterisch angesehen werden oder die die Schulbildung beeinträchtigen. Die Internationale Arbeitsorganisation (ILO), die einst Bemühungen zur Regulierung der Arbeit von Kindern unterstützte, fördert heute diese Art von Strategien. Sie setzt sich nachdrücklich für die vollständige Abschaffung der Kinderarbeit ein und steht derzeit an der Spitze einer weltweiten Initiative zur Abschaffung aller Formen der Kinderarbeit bis 2025 (siehe: https://endchildlabour2021.org/overview/).

Die Politik zur Abschaffung der Kinderarbeit, die auf einer idealisierten Vorstellung von Kindheit als ausschließlicher Zeit des Spielens und Lernens beruht, vernachlässigt jedoch die gesellschaftlichen Zusammenhänge und die strukturellen Gründe, warum Kinder arbeiten. Sie macht sich blind dafür, wie Arbeit das Leben von Kindern verbessern kann, und erschwert daher, dass kinderarbeitsbezogene Maßnahmen, die in der Regel in lokalen Kontexten stattfinden, Gehör finden.

Anstatt zu versuchen, den alles andere als idealen Umständen mit Gewalt ein Ideal aufzuzwingen, sollten sich die internationalen Bemühungen zur Verbesserung der Lebensbedingungen arbeitender Kinder auf die politisch-wirtschaftlichen Kräfte und strukturellen Ungleichheiten konzentrieren, die zu Kinderarmut führen. Im Folgenden gebe ich einige Strategien an, wie dies geschehen kann. Die Entscheidungsträger*innen hätten eine Chance, das Wohlergehen arbeitender Kinder zu verbessern, wenn sie diese Strategien befolgen würden. Wenn sie jedoch weiterhin darauf bestehen, ihren derzeitigen Kurs fortzusetzen, werden sie wahrscheinlich nicht viel mehr erreichen, als die Menschen zu bestrafen, die sie zu schützen vorgeben.

Mein Leben als “Kinderarbeiter”.

Ich bin in Äthiopien als „Kinderarbeiter“ aufgewachsen, wenn das die richtige Bezeichnung für die Millionen von Kindern ist, die überall auf der Welt zum Lebensunterhalt ihrer Familien beitragen. Jeden Tag holte ich Wasser aus einem Fluss, und jedes Wochenende trug ich Feuerholz von weit entfernten Orten nach Hause. Wenn ich nicht gerade den Schichtunterricht in der Schule besuchte, verkaufte ich selbst gekochtes Essen auf den Tagesmärkten und arbeitete als Hilfsarbeiter auf örtlichen Baustellen, um ein Einkommen zu erzielen. Ich erledigte zahlreiche Aufgaben im Haushalt. Ich brachte Getreide zu den Mühlen, machte Besorgungen, kochte, wusch Wäsche, kümmerte mich um meine Geschwister und arbeitete mit ihnen zusammen, um eine bezahlte Arbeit außerhalb des Hauses zu finden.

Ich romantisiere weder die Armut noch meine Arbeit. Aber ich bezweifle nicht, dass Arbeit nützlich ist, um die alltäglichen Probleme des Lebens zu bewältigen, wie etwa den Kauf von Lebensmitteln oder die Bezahlung von Schreibutensilien. Millionen von arbeitenden Kindern sorgen für ihren Lebensunterhalt, indem sie ein Einkommen erzielen, das den Lebensunterhalt der Familie ergänzt. Sie helfen im Haushalt, in der Landwirtschaft und im Handel mit, damit die Erwachsenen genügend Zeit und Raum für die speziellen Tätigkeiten haben, die nur sie ausführen können. Diese Lebensumstände – die Beschaffung von lebenserhaltenden Ressourcen und die Diversifizierung der Erwerbsstrategien zur Sicherung der kollektiven Existenz – werden viel zu oft ignoriert, wenn es um die Verbesserung des Wohlergehens arbeitender Kinder geht.

Meine Erfahrung, was es bedeutet, ein arbeitendes Kind zu sein, deckt sich mit Studien, die zeigen, dass die Beiträge von Kindern von Familien und Gemeinschaften geschätzt werden und für sie wertvoll sind. Die Einbindung in die Arbeit von klein auf ist ein zentrales Merkmal der Elternschaft in Gesellschaften mit niedrigem Einkommen. Diese Art der Kindererziehung ist keineswegs vernachlässigend oder missbräuchlich, sondern zielt bewusst darauf ab, die Kinder in die Gesellschaft zu integrieren und sie auf die Pflichten des Lebens vorzubereiten. Arbeit hat also nicht nur einen erzieherischen Wert, sondern macht die Kinder auch widerstandsfähiger gegen Widrigkeiten, sowohl jetzt als auch später im Erwachsenenleben.

Am Schnittpunkt von Arbeit, Armut und Kultur.

Seit 15 Jahren beschäftige ich mich mit Kindern, die am Rande der äthiopischen Gesellschaft leben – mit denjenigen, die in der Kaffeewirtschaft arbeiten, mit Bettler*innen, Wanderhändler*innen, Straßenhändler*innen, Pflegepersonal, Hausangestellten usw. – seit nunmehr über 15 Jahren. Bei vielen von ihnen hatte ich die Gelegenheit, ihre Lebensstrategien zu verfolgen, die sich im Laufe der Zeit verändert haben. Ich habe untersucht, warum sie arbeiten, und auch das Umfeld, in dem sie sich bewegen müssen, um über die Runden zu kommen. Und vor allem sind die beiden Themen, die das Leben dieser Kinder kennzeichnen, die Überschneidung von Arbeit und Armut sowie der familiäre und kulturelle Kontext, der ihre Arbeit prägt. Diese Aspekte der politischen Ökonomie werden jedoch in der Regel von politischen Entscheidungsträger*innen und Praktiker*innen unterschätzt oder vernachlässigt, wenn es um Kinderarbeit geht.

Ein Beispiel dafür, wie sich die politische Ökonomie auf die Kinderarmut auswirkt, ist in meiner Studie über den Kaffeesektor in Äthiopien dokumentiert. Die Kaffeewirtschaft macht 60 % der Auslandseinnahmen Äthiopiens aus und beschäftigt über 20 Millionen Menschen. Die Einnahmen aus dem Kaffeesektor sind jedoch aufgrund des volatilen Weltmarkts und des Klimawandels instabil. Vor allem das Einkommen der Kaffeebäuer*innen ist in den letzten zehn Jahren erheblich zurückgegangen. Ursache dafür ist vor allem die Liberalisierung des Kaffeemarktes. Nach dem Zusammenbruch der International Coffee Association im Jahr 1989 begannen die Kaffeeröstereien – und nicht die Kaffeeproduzent*innen oder die Verbraucher*innen – den Kaffeepreis auf dem Weltmarkt zu diktieren. Hinzu kommt, dass die Kaffeebäuer*innen ihre Produkte nicht aufwerten können, um ihren Anteil am Ertrag zu erhöhen. Sie können nur Rohkaffee zu einem niedrigen Preis verkaufen.

Dies ist das „Kaffeeparadoxon“ in der Wertschöpfungskette, bei dem ein großer Preisunterschied zwischen dem Rohkaffee, der als Rohstoff verkauft wird, und dem gerösteten Kaffee, der als Endprodukt an die Verbraucher*innen verkauft wird, besteht. Diese Handelsprobleme – in Verbindung mit den ständig steigenden Kosten für Produktionsmittel wie Arbeit, Düngemittel, Pestizide, Insektizide usw. – führen dazu, dass die Bäuer*innen nur ein geringes Einkommen aus ihren Erzeugnissen erzielen. Dies macht nicht nur die Kaffee produzierenden Familien ärmer, sondern wirkt sich auch negativ auf das Einkommen der Kinder aus, die mit dem Pflücken der Beeren beschäftigt sind. Die Einkommensreduzierung auf Haushalts- und nationaler Ebene bedeutet, dass weniger Mittel für die Ernährung der Kinder oder die Finanzierung ihrer Bildung und Gesundheitsversorgung zur Verfügung stehen. Das ist die Realität, und sie ist weitgehend durch globale wirtschaftliche Prozesse und nicht durch lokale Faktoren verursacht worden.

Meine Forschung (siehe: https://link.springer.com/referenceworkentry/10.1007%2F978-981-4585-95-8_24-1) dokumentiert, wie die Kaffeekrise die Aufgaben, die Kinder übernehmen müssen, um die Überlebensfähigkeit ihres Haushalts zu erhöhen, verschärft hat. Mit der Verschärfung der Armut wurden die Aufgaben im Haushalt neu verteilt, was zu einem Phänomen führte, bei dem die Kinder als Stoßdämpfer fungieren. Sie leisten mehr Arbeitsstunden für unbezahlte oder schlecht bezahlte Tätigkeiten, wie z.B. die Herstellung von Nahrungsmitteln oder die Betreuung von Geschwistern, damit erwachsene Männer und Frauen einkommensschaffende Tätigkeiten ausüben oder zur Arbeit auswandern können. Auch die Bandbreite ihrer Aktivitäten hat sich erweitert. Einige haben zum Beispiel Akkordarbeit in nahe gelegenen Städten aufgenommen oder arbeiten als Tagelöhner*innen in den Transportterminals. Andere haben sich auf der Suche nach Arbeit auch für die Migration entschieden. Die Lehre daraus ist, dass dies keine Einzelfälle sind. Die Ausbeutung der Kinderarbeit ist ein systemisches Problem, das nur durch eine Konzentration auf seine strukturellen oder politisch-wirtschaftlichen Ursachen gelöst werden kann.

Kinderarbeit steht auch im Zusammenhang mit generationenübergreifender Armut und der zunehmenden Feminisierung des Überlebens. Die Zahl der ländlichen und städtischen Familien, die sich in erster Linie auf weibliche Ernährerinnen verlassen, hat weltweit zugenommen, und eine Folge davon ist, dass Kinderarbeit einmal mehr als Stoßdämpfer für eine unsichere Lebensgrundlage eingesetzt wird. Jungen und Mädchen übernehmen die Verantwortung für die Hausarbeit, um die Belastung des weiblichen Haushaltsvorstands zu verringern. Und wie bei der Kaffeekrise ist dies zu einem großen Teil auf Faktoren zurückzuführen, die außerhalb der Kontrolle der einzelnen Familien liegen. Untersuchungen zeigen, dass die zunehmende Betreuungsarbeit von Kindern, insbesondere von Mädchen, untrennbar mit den geringeren staatlichen Ausgaben für Gesundheits- und Krankenhauspflege zusammenhängt, wodurch die Armut der Frauen und die häuslichen Betreuungsaufgaben zunehmen. Es ist daher auch notwendig zu verstehen, wie sich die (geschlechtsspezifischen) familiären Existenzgrundlagen mit der politischen Ökonomie überschneiden, um die Dynamik der Arbeitsbeziehungen zu beeinflussen, einschließlich des Wertes, den die Arbeit der Kinder erzeugt.

Realitäten Anerkennen und die Strategien anpassen

Wir können weder die Kinderarmut verringern noch die Situation von arbeitenden Kindern verbessern, ohne uns mit der Frage der politischen Ökonomie zu befassen. Dies ist die wichtigste Erkenntnis. Die politische Ökonomie offenbart die Dynamik, die die Arbeit von Kindern und diejenigen, die deren Arbeit in die Ausbeutung treiben, prägt. Sie erklärt das Zusammenspiel zwischen materiellen Praktiken und kulturellen Vorstellungen. Und sie legt Fragen rund um den Zugang zu und die Nutzung von Ressourcen offen. Wie das Beispiel aus dem Kaffeesektor zeigt, sind die materiellen Zusammenhänge, die die Arbeit von Kindern prägen, und die wirtschaftlichen Prozesse, die diese materiellen Bedingungen schaffen, untrennbar miteinander verbunden. Wenn der Preis für Rohkaffee sinkt, leiden die Kaffeebauern unter einem Einkommensverlust, der nicht nur die Armut der Haushalte erhöht, sondern auch eine stärkere Beteiligung der Kinder an den Bemühungen um ein zusätzliches Einkommen notwendig macht. Der einzige Ausweg besteht darin, die sozialen und wirtschaftlichen Strukturen zu bekämpfen, die die arbeitenden Kinder verarmen lassen, nicht die Arbeit der Kinder selbst.

Die politische Ökonomie ist heute wichtiger denn je. Die Covid-19-Pandemie hat die Einkommensmöglichkeiten sowohl von Kindern als auch von Erwachsenen im informellen Sektor beeinträchtigt. Sie hat Migrantenkinder und arbeitende Kinder vertrieben und ihre Existenzgrundlage unsicherer gemacht. Die nachteiligen Folgen der sozialen Distanzierungsmaßnahmen sind nicht nur der Verlust der Lebensgrundlagen. Sie haben das Vermögen der Haushalte in einer Weise ausgehöhlt, die es vielen Kindern schwer machen wird, zu regelmäßigen alltäglichen Aktivitäten wie der Schule zurückzukehren. Die Unfähigkeit der armen Regierungen, finanzielle Unterstützung zu leisten, hat auch dazu geführt, dass viele Kinder für sich selbst sorgen müssen. Die Verschärfung der Armut zeigt nicht nur die Hyper-Präkarität, die Covid-19 verursacht hat, sondern erfordert auch Maßnahmen, die sich auf Ungleichheit und die Umverteilung von Ressourcen konzentrieren. Da 25 Prozent der Weltbevölkerung geimpft sind, aber nur 1 Prozent in den armen Ländern, liefert die Pandemie nicht nur neue Erkenntnisse darüber, wie und warum wir uns um die globalen Ungleichheiten kümmern müssen – sie macht diese Ungleichheiten auch deutlich.

Die arbeitenden Kinder, mit denen ich im Rahmen meiner Forschung gesprochen habe, haben wiederholt gesagt, dass sie Sozialschutzprogramme benötigen, die ihre Betreuung und ihr Wohlergehen unterstützen. Diese Forderung steht im Einklang mit den Artikeln 19 und 27 der UN-Kinderrechtskonvention, doch in vielen ressourcenarmen Kontexten sind solche Programme nicht vorhanden, unzureichend oder unwirksam. Ein praktischer Schritt, den die Beteiligten, einschließlich der Regierungen, des Privatsektors und der Nichtregierungsorganisationen, unternehmen könnten, besteht darin, sich auf die Stärkung und Verbesserung dieser Sozialschutzprogramme zu konzentrieren.

Kinder, die auf der Straße betteln oder in der Schattenwirtschaft arbeiten, sind sich darüber im Klaren, dass die Gründe für ihre Arbeit nicht nur in einem Mangel an Nahrung oder Kleidung liegen. Sie führen auch andere soziale Benachteiligungen an, wie z.B. den fehlenden Zugang zu Wohnraum oder Behindertenbetreuung. Sie fordern, dass die Entscheidungsträger dem Zugang zu hochwertiger Bildung, Qualifizierungsmaßnahmen und Startkapital für Kleinunternehmen Vorrang einräumen. Viele betonen die Notwendigkeit einer flexiblen Schulbildung, und eine wichtige politische Strategie, die die Regierungen anwenden können, um den Schulbesuch von arbeitenden Kindern zu erhöhen, besteht darin, den Schulkalender besser an den Arbeitszyklen der Gemeinschaft anzupassen.

Bargeldtransferprogramme haben sich ebenfalls als wirksame Unterstützung für arbeitende Kinder und ihre Familien erwiesen, und es gibt ein großes Potenzial für die Ausweitung solcher Programme. Die Regierungen könnten sich auf die Umverteilung des Wohlstands und die Verringerung sozialer Ungleichheiten konzentrieren, auf die Regulierung der Inflation bei lebensnotwendigen Gütern wie Lebensmitteln, Wasser, Strom und Gesundheitsversorgung sowie auf den Aufbau von Sozialversicherungssystemen zur Unterstützung von Haushalten mit behinderten Mitgliedern. Arbeitende Kinder sagen, dass sie angemessenen und erschwinglichen Wohnraum benötigen, und die Wohnungspolitik sollte den Zugang zu Unterkünften in Städten sicherstellen, in denen es für die meisten Haushalte mit niedrigem Einkommen immer schwieriger wird, die Miete zu bezahlen.

Diese Lösungen mögen kurzfristig teuer oder nebensächlich erscheinen, aber sie sind genau die Art von Ansätzen, die eine dauerhafte Wirkung haben und arbeitende Kinder stärken.


Links

Die englischen Originale der beiden Berichte befinden sich hier:

https://www.opendemocracy.net/en/beyond-trafficking-and-slavery/my-childhood-as-a-child-worker-in-malawi/

https://www.opendemocracy.net/en/beyond-trafficking-and-slavery/child-labour-a-shock-absorber-for-economic-precarity/

Weitere Berichte auf der Plattform openDemocracy befinden sich hier:

https://www.opendemocracy.net/en/beyond-trafficking-and-slavery/are-adults-willing-to-listen-to-children-on-child-labour/

https://www.opendemocracy.net/en/beyond-trafficking-and-slavery/where-is-the-solidarity-for-working-girls/

https://www.opendemocracy.net/en/beyond-trafficking-and-slavery/banning-child-labour-jeopardises-working-childrens-right-to-survive/

https://www.opendemocracy.net/en/beyond-trafficking-and-slavery/to-be-an-afghan-child-worker-in-iran/

https://www.opendemocracy.net/en/beyond-trafficking-and-slavery/working-children-claim-their-rights-in-cameroon/

Aktualisiert: 01.11.2021