Dolmetschende Kinder in Familien nicht-deutscher Sprache – Gefahr für das Kindeswohl oder Anerkennung der Kinder?

Der Bundesverband der Dolmetscher und Übersetzer (BDÜ) hat in einem Positionspapier zu einem bisher wenig beachteten Phänomen Stellung genommen: dem Dolmetschen der Kinder von Familien nicht-deutscher Sprache für ihre Familienangehörigen. Unseres Erachtens wird diese Stellungnahme dem Problem nicht gerecht, insbesondere wenn sie unter Bezug auf die UN-Kinderrechtskonvention das Dolmetschen von Kindern pauschal als eine Tätigkeit verurteilt, die das Kindeswohl gefährde oder eine Form wirtschaftlicher Ausbeutung darstelle und deshalb zu verbieten sei.

In seiner Stellungnahme macht der BDÜ zu Recht darauf aufmerksam, dass die staatlichen Behörden die Rechte von Personen, die nicht ausreichend Deutsch sprechen, verletzen, wenn sie ihnen weder eine professionelle Übersetzung anbieten noch dafür die Kosten übernehmen. Er weist auch zu Recht daraufhin, dass in vielen Situationen der Rückgriff auf dolmetschende Kinder den Anforderungen an eine fachgemäße Übersetzung nicht gerecht wird sowie die Kinder überfordern und übermäßig belasten kann.

Der BDÜ erwähnt in seiner Stellungnahme zwar, dass Kinder für ihre Dolmetschtätigkeit mitunter „Gefühle wie Stolz, Zugehörigkeit zur Welt der Erwachsenen und ein höheres Selbstwertgefühl“ bekunden, aber er schenkt den Sichtweisen und den positiven Bedeutungen, die diese Tätigkeiten für Kinder haben können, nicht genügend Beachtung. Es ist ein großer Unterschied, ob die Kinder zum Übersetzen genötigt werden, weil die erwachsenen Familienangehörigen dies als Pflicht ihrer Kinder betrachten bzw. weil ihnen aufgrund ihrer prekären Lebenslage keine Alternative bleibt, oder ob Kinder aus ihrem Gefühl der Zugehörigkeit entscheiden, ihre Familiengehörigen zu unterstützen.

Beim Dolmetschen von Kindern ist auch zu beachten, um welche Art von Übersetzungen es geht und in welcher Situation Kinder diese Aufgabe übernehmen. Bei medizinischen Behandlungen oder in juristischen Streitfällen sind die Behörden verpflichtet, professionelle Übersetzer*innen zur Verfügung zu stellen. Kinder dürfen nicht als billige Lückenbüßer für staatliche Versäumnisse instrumentalisiert werden. Aber in vielen anderen Situationen und Angelegenheiten kann die Sprachkompetenz von Kindern die Lösung von Alltagsproblemen ihrer Familien erleichtern. In diesen Fällen kann das Dolmetschen von Kindern zum Abbau generationaler Hierarchien ebenso beitragen wie es ihr prosoziales Verhalten, ihr Selbstbewusstsein und ihr Verständnis eigener Rechte fördern kann.

Die Annahme des BDÜ, Kinder würden durch die Übernahme von Übersetzungen am Lernen und Spielen gehindert, das „Kindeswohl“ (Art. 3 UNKRK) werde gefährdet oder die Kinder verlören sogar ihre „Kindheit“, basiert auf einem kulturell einseitigen eurozentrischen Kindheitsverständnis. Es negiert, dass Mitverantwortung und die Beteiligung an lebenswichtigen Aufgaben Kindheit auch bereichern und zum Lernen und der Entwicklung der Kinder beitragen kann. Dem Kindeswohl kommt auch zugute, wenn Kinder sich für ihre Familien einsetzen und sie unterstützen wollen.

In manchen Fällen mag es zutreffen, dass Kinder mit unzumutbaren Aufgaben betraut und überfordert werden, aber dies kann nicht generalisiert werden. Statt Kindern pauschal das Übersetzen zu verbieten und so ihre Tätigkeit in eine rechtliche Grauzone zu verbannen, sollten die Kinder dafür Anerkennung finden, auch indem sie für ihre Arbeit angemessen honoriert werden. Dabei ist auch zu unterscheiden, ob die Kinder als Dolmetscher*innen oder interkulturelle Mittler*innen agieren.

Die Forschung (sei es in den Feldern der Migration, der Soziologie, der Psychologie, der Politik, der Rechtswissenschaft) hat der Praxis des Kinderdolmetschens bisher nicht die nötige Aufmerksamkeit gewidmet. Allerdings gibt die Care-Forschung Hinweise, wie das Phänomen ganzheitlich untersucht und differenzierte Lösungen gefunden werden können, die den Erfahrungen und Sichtweisen der Kinder und verschiedenen soziokulturellen Kontexten Rechnung tragen. Dabei ist den möglichen nachteiligen sozialen und psychischen Folgen ebenso nachzugehen, wie den Faktoren, die die Kinder von Familien nicht-deutscher Sprache stärken und fördern können.

Links

Positionspapier Zum Kinderdolmetschen des BDÜ

Weiterführender Artikel des Britisch Psychological Society (auf Englisch)

Aktualisiert: 22.12.2021