„Wenn der Springbrunnen brüllt…“ Ein Augenzeugenbericht aus Bangladesch zu den Schüler*innenprotesten

Seit Sommer 2018, als zwei Schüler*innen getötet und und zwölf weitere bei einem Verkehrsunfall verletzt wurden, kam es in Bangladesch zu einem beispielslosen Kampf der Kinder um Gerechtigkeit. Doch jetzt, wo die Kinder der korrupten Regierung gefährlich wurden, setzte diese eine ebenfalls beispielslose Welle der Gewalt, Inhaftierung und Überwachung ein. ProNATs veröffentlicht ein Augenzeugenbericht einer Kontaktperson, die nicht namentlich genannt werden möchte.

In ihrem Alltag erlebten sie schweigend Ungerechtigkeit, Tötung, Vergewaltigung und Gewalt gegen unschuldige Menschen, gefolgt von der jubelnden Feier der Vergewaltiger und Mörder. Sie haben Korruption, Gesetzlosigkeit und schlechte Regierungsführung im ganzen Land stillschweigend toleriert. Sie erlebten, wie unterschiedliche Stimmen und freies Denken durch Tötung, Folter und erzwungenes Verschwinden von Personen, die von staatlichen Mächten ausgehen, zum Schweigen gebracht werden. Diese Ohnmacht, vielleicht die Sprachlosigkeit der einfachen Menschen, hat schließlich nicht verhindert, dass sie ihr Schweigen gebrochen haben.

Am 29. Juli 2018 wurden bei einem weiteren Verkehrsunfall zwei Schüler*innen getötet und zwölf weitere verletzt. Der Kampf der Mitschüler*innen um Gerechtigkeit wurde vom Verkehrsminister mit einem Lächeln im Gesicht mit Spott bedacht. Das entfachte ihre Wut, sie gingen auf die Straße. Zu Tausenden riefen sie: „Wer zum Teufel ist die Polizei, wir wollen Gerechtigkeit!“ (Siehe: https://apnews.com/article/d54fec60bd324e0c8beb61615691a6ea)

Während Korruption und schlechte Regierungsführung in allen Bereichen Bangladeschs tief verwurzelt sind, begannen die jungen Leute ihre Reise, um das staatliche Verkehrssystem zu „reparieren“. Es steht über dem Gesetz, mit mächtigen politischen Mafias, die private Busunternehmen besitzen und die die Transportgewerkschaft als mächtigen Kader einsetzen, um die Regierung an der Macht zu halten. Diese Eigentümer erhalten gefälschte Führerscheine für ungeschulte Mitarbeiter*innen ihrer Unternehmen. Die Polizei hilft ihnen im Austausch gegen Bestechungsgelder oft, die ungeeigneten Fahrzeuge auf der Straße fahren zu lassen und Leute umzubringen. Auf diese Weise starben allein 2018 7.400 Menschen bei Verkehrsunfällen in Bangladesch und weitere 16.100 wurden verletzt.

Die Jugendlichen, meist Mädchen und Jungen im Alter von 15 bis 19 Jahren in Schuluniformen, errichteten Kontrollpunkte in der ganzen Stadt. Die Kinder und Jugendlichen an den Kontrollpunkten zwangen die Polizei und die Regierungsbeamten, Führerscheine und Kfz-Zulassungen vorzuweisen, regelten den überlasteten Verkehr, indem sie die Fahrer*innen, die dafür bekannt sind, die falsche Straßenseite zu nehmen oder Verkehrszeichen zu missachten, zwangen, sich strikt an das Gesetz zu halten. Ein Minister, der in seiner Autokolonne unterwegs war, war gezwungen, der gültigen Änderungsroute zu folgen, nachdem seine Mitarbeiter*innen keinen Führerschein vorlegen konnten. Sie übergaben sanft die nicht zugelassenen Fahrer*innen, die an Kontrollpunkten angehalten wurden, an die Polizei. Über Nacht erlebte die Stadt eine wundersame Entwicklung im Verkehrsmanagement.

„Wenn Kinder wie wir Disziplin im Verkehrsmanagement herstellen können, warum kann die Verkehrspolizei das nicht tun?“ – sagte ein junger Mann. „Es liegt daran, dass sie Bestechungsgelder erhalten. Sie sind nicht daran interessiert, richtig zu überprüfen, also können sie einen illegalen Nutzen daraus ziehen.“

Die Proteste verschärften sich und breiteten sich in den folgenden Tagen auch außerhalb der Hauptstadt aus. Das Land erlebte eine beispiellose Episode in der Geschichte Bangladeschs. Die Eltern und Lehrer*innen, Journalist*innen und andere Bürger*innen, begannen auf die Straße zu gehen und standen ihren tapferen Kindern zur Seite.

Die Kinder und Jugendlichen versammelten sich morgens an ihren Schulen oder Colleges, blieben manchmal dort über Nacht, bevor sie auf die Straße gingen und die provisorischen Kontrollpunkte um ihre jeweiligen Institutionen herum managten. Täglich versammelten sich rund 15.000 von ihnen. Auch die Anwohner*innen und Restaurants in der Nähe schlossen sich diesem emotional aufgeladenen historischen Ereignis an und boten diesen hart arbeitenden Jungen und Mädchen, die die Reformer*innen von Bangladesch zu sein schienen, kostenloses Essen und Trinken an. Das Land begann, von einer strahlenden Morgendämmerung zu träumen und glaubte, dass das, was bisher niemand sonst tun konnte, diese glorreichen Held*innen tun würden. Sie kamen führerlos, niemand organisierte oder trainierte sie, die UNO oder die Kinderrechtsorganisationen gaben keinen einzigen Cent für sie aus, niemand vertrat sie, aber sie waren alle „präsent“ und mit ihrer inneren Kraft und ihrem Engagement aktiv. Es geschah also alles spontan.

Vielleicht war es für niemanden vorstellbar, dass dieser seltene goldene Sonnenschein so schnell wieder in der Dunkelheit verloren geht. Die Fähigkeit der Kinder und Jugendlichen, so schnell Disziplin in das Verkehrssystem zu bringen, hat die Regierung und die herrschende Partei in Verlegenheit gebracht, da in fünf Monaten die Wahl bevorstand. Sie waren der Meinung, dass der Erfolg dieses Protestes zu einem landesweiten Volksaufstand gegen die Regierung führen könnte. Um mit der Situation fertig zu werden, mobilisierte die Regierung umgehend ihre kollektive Gewalt, die aus Staatssicherheit, Schülerkadern der herrschenden Partei, kontrollierten Medien und der Propagandamaschine gegen die jungen Demonstrant*innen bestand. Innerhalb einer Woche griff eine bewaffnete regierungsnahe Studentenorganisation die Demonstrant*innen sowie einfühlsame internationale Journalist*innen an, die über die täglichen Ereignisse berichteten (siehe: https://www.youtube.com/watch?v=CDSz2VS_GOk). Mindestens 200 Menschen wurden verletzt, viele davon verhaftet. Das Durchgreifen verschärfte sich, als sich Studierende der privaten und öffentlichen Universitäten zum Schutz der von Polizei und regierenden Parteikadern brutal angegriffenen Kinder und Jugendlichen einsetzten. Die Polizei nahm viele protestierende Studierende fest, während keine Maßnahmen gegen ihre Angreifer ergriffen wurden.

Nachdem die Regierung die Veröffentlichung von Medienberichten strikt kontrollierte, haben die sozialen Medien das harte Durchgreifen gegen die Demonstrant*innen aufgegriffen, einschließlich der Nutzung von Live-Übertragungen. Einige der gewaltsamen Vorfälle, die von den sozialen Medien dokumentiert wurden, einschließlich der Vergewaltigung von protestierenden Mädchen, wurden geleugnet, gefolgt von sofortigen Regierungsmaßnahmen gegen diejenigen, die angeblich „Gerüchte verbreiteten“, und es wurde gewarnt, dass keiner verschont bleiben werde (siehe: https://www.theguardian.com/world/2018/aug/10/none-will-be-spared-students-fear-reprisals-over-bangladesh-unrest).

Die Staatssicherheit untersuchte über 1.500 Profile auf verschiedenen sozialen Medien und leitete rechtliche Schritte gegen 150 solcher Profilinhaber*innen wegen ihrer angeblichen Beteiligung an der „Anstiftung zur Anarchie“ während der Bewegung ein. Die mächtige regierungsfreundliche Jugendliga unterstützte die Polizei bei solchen Aktionen, indem sie Aktivist*innen festhielt und folterte, wobei sie sich das Filmmaterial vom Protest zunutze machte. Einige Lehrer*innen und Eltern, die die Demonstrant*innen unterstützten, wurden ebenfalls verhaftet. Die regierende parteihörige Universitätsverwaltung übergab verdächtige Demonstrant*innen an die Polizei. In vielen Teilen der Stadt führten die Strafverfolgungsbehörden Haus-zu-Haus-Durchsuchungen nach den Online-Aktivist*innen durch.

Die tapferen Mädchen und Jungen blieben während des gesamten Protestes diszipliniert. Ihr Opfer und ihr Einsatz werden der Nation noch Jahrzehnte lang in Erinnerung bleiben. Die tapferen Held*innen sind wie ein ruhig fließender Brunnen, der gegen alle Widerstände durch den felsigen Berg hinausgeht. Sie können nie für immer zum Schweigen gebracht werden – bald werden sie zurückkehren, um das Land zu erneuern!

Geschickt von einem Bürger aus Bangladesch. Übersetzung: ProNATs e.V.

Aktualisiert: 06.05.2019